Kapsel 6
Finden Sie heraus, wie die Passion Christi sechs Orte auf der Insel Hvar verbindet und die Menschen in Hvar dazu motiviert, mitten in der Nacht barfuß mit einem großen und schweren Stück Holz auf dem Rücken die Inselstraßen entlang zu gehen, und warum die Wartelisten für diese Erfahrung viel länger sind, als die für die Birkin Handtaschen von Hermes? Lernen Sie das Phänomen kennen, das seit fünf Jahrhunderten alle Generationen der Insulaner versammelt, finden Sie heraus, wie es aussieht, wenn Sie wegen Musik, die Sie nicht verstehen, Gänsehaut bekommen und warum in Hvar zu dieser Jahreszeit selbst die kältesten Herzen wissen, wie man eine Träne vergießt. Was ist das Geheimnis der Prozession, die von der UNESCO in die Liste des immateriellen Erbes der Menschheit aufgenommen wurde? Es wird ein interessanter Tag für diejenigen, die zur Spiritualität neigen, und noch mehr für diejenigen, die überhaupt nicht an Spiritualität interessiert sind. Aber wir werden uns nicht nur auf den Geist konzentrieren, sondern wir werden auch sicherstellen, dass Ihr Körper versorgt wird.
FÄDEN DES ERBES
Wo enden Geschichten und wo beginnt die Realität und umgekehrt, wo endet die Realität und wo beginnen Geschichten?
Haben Sie jemals an Bräuche gedacht, die schon seit Jahrhunderten wie Fäden in einem feinen Gewebe, mit dem Leben der Menschen verwoben sind und Menschen auf bestimmte Weise kennzeichnen und formen, ohne dass sie sich oft dessen bewusst sind?
Ist das Leben nicht manchmal anspruchsvoll und dann brauchen Sie nur eine ruhige, aber feste Hand, die Ihnen auf dem Weg hilft? Denken Sie gelegentlich, dass es in unserer neuen Welt keine bedingungslose Liebe mehr gibt, und fühlen Sie sich deswegen melancholisch oder vielleicht traurig? Fühlen Sie ein nicht zu erklärendes Schuldgefühl und fragen sich, woher es kommt? Ist Ihnen jemals in den Sinn gekommen, wie wunderbar es wäre, wenn es keine Angst, sondern nur Glauben, Hoffnung und Liebe gäbe? Und gibt es einen Ort, an dem das möglich ist?
Eine einzige Nacht in Hvar kann Sie dazu veranlassen, all diese und viele andere Fragen zu stellen. Hier handelt es sich nicht, um eine Nacht in einem Hvarer Club, obwohl Hvar derzeit am bekanntesten dafür ist. Diese Nacht bezieht sich auf eine andere Art von Club; er ist ein bisschen herausfordernder, interessanter und viel aufregender. Idealerweise erleben Sie die Nacht von Gründonnerstag bis Karfreitag persönlich und „live“. Wenn das aber nicht möglich ist, ist unsere Aufgabe heute, bei Ihnen Fragen zu evozieren und Sie auf dem Weg zu führen, auf dem Sie Antworten suchen können. Man behauptet, dass diese Tradition, nämlich das Kreuz in der Nachtprozession von Gründonnerstag bis Karfreitag zu tragen, über 500 Jahre alt ist. Die frühesten schriftlichen Aufzeichnungen darüber stammen aus der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts. Sein Ursprung hängt mit der Praxis der Geißelprozessionen zusammen, die zu dieser Zeit von den sogenannten Flagellanten oder Geißler-Bruderschaften in Westeuropa praktiziert wurden, und die absolut gar nichts mit 50 Shades of Grey zu tun haben. Es ist auch mit einem Ereignis verbunden, das sich am 6. Februar 1510 in Hvar ereignete, als nach historischen Angaben ein kleines Kruzifix in einem Privathaus blutete. Heute wird dieses Kruzifix in der Kathedrale von Hvar aufbewahrt.
Diese berühmteste Prozession ist nicht die einzige auf der Insel, bei der man in dieser Nacht dem Kreuz nachfolgt. Die Bewohner von Dol gehen in einer Prozession nach Stari Grad und kehren nach Dol wieder zurück. Die Bewohner von Sveta Nedjelja gehen sogar bis nach Jagodna und zurück. Die Bewohner von Poljica gehen nach Zastražišće, während die Bewohner von Zastražišće nach Poljica gehen. Die Bewohner von Gdinje gehen nach Bogomolje und umgekehrt. Die Bewohner von Sućuraj gehen in einer Prozession rund um ihr Dorf. Alle diese Prozessionen finden nur am Morgen statt, und obwohl sie die gleiche Bedeutung und den gleichen Zweck haben, sind sie energetisch und emotional unvergleichbar mit der Erfahrung der Prozession Za Križen, über die wir heute sprechen.
So wie sich alles im Leben ändert, scheint sich auch die Art und Weise, wie diese Prozession im Laufe der Geschichte aufrechterhalten wurde, geändert zu haben. Anfangs besuchten sich nur zwei Nachbardörfer, und mit der Zeit hat sich der Brauch zu dem entwickelt, wie er heute ist: In der Nacht von Gründonnerstag, in einem Umkreis von etwa 20 Kilometern – bestehend aus Jelsa, Pitve, Vrisnik, Svirče, Vrbanj und Vrboska, beginnen zur gleichen Zeit, um 22 Uhr, sechs separate Prozessionen von den Pfarrkirchen. Die Prozessionen bewegen sich im Uhrzeigersinn. Jede Prozession betritt jede Pfarrkirche sowie einige kleinere Kirchen, besucht das feierlich arrangierte Božji greb (Grab Jesu) und endet mit einer Rückkehr zur ursprünglichen Pfarrkirche in den frühen Morgenstunden des Karfreitags.
Mit großer Sorgfalt wird dafür gesorgt, dass sich zwei Prozessionen am Eingang oder Ausgang eines Ortes nicht treffen, sowohl wegen der Ordnung als auch weil angenommen wird, dass dies Unglück bringen könnte. Früher war alles etwas schwieriger und mehr romantisch, daher bewegten sich auch die Prozessionen entlang der alten Schotterstraßen, die diese Dörfer durch Wälder und Felder und über Hügel miteinander verbanden, während sie sich heute meist auf asphaltierten Straßen bewegen. Obwohl die Route vorbestimmt ist, hängen einige Entscheidungen vom Kreuzträger und seinen Gefolgen ab, wie beispielsweise die Entscheidung, ob man in einige Kirchen hineinkommt oder ob eine Asphaltstraße oder die alte Schotterstraße genommen werden soll. Personen, die das Gefühl haben, für all die Geschenke in ihrem Leben extra danken zu müssen oder eine besondere Bitte für den Allmächtigen haben, gehen normalerweise den härteren Weg. Ja, es kann eine Parallele zwischen der Prozession und dem echten Leben gezogen werden ...
Die Prozession Za Križen ist nicht nur eine spirituelle, emotionale, energetische, physische, sondern auch eine wunderbare visuelle Erfahrung. An Anfang der Prozession steht der Kreuzträger mit einem Kruzifix, das mit einem schwarzen Schleier bedeckt ist, begleitet von Kerzenträgern (Fackeln und Kandelaber) seiner Wahl. Sie tragen weiße Tuniken, die einst auch von Mitgliedern der Bruderschaft getragen wurden. Visuell ist dies wichtig, um Emotionen zu erzeugen.
Für das Tragen des schweren Holzkreuzes entscheidet man sich normalerweise wegen eines persönlichen oder familiären Gelübdes. Damit drückt man eine Buße, Bitte oder Dankbarkeit für die gezeigte Barmherzigkeit aus. Einige Kreuzträger tragen das Kreuz barfuß, nur mit Strickstrümpfen an den Füßen. Zukünftige Kreuzträger kommen bereits in sehr jungen Jahren auf eine Warteliste, da einige von ihnen über zwanzig Jahre warten müssen, um auf die Reihe zu kommen, das Kreuz zu tragen. All dies erzeugt natürlich besonders starke Emotionen in der gesamten Geschichte.
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Die Pfarrer nehmen im Allgemeinen nicht an den Prozessionen teil. Sie begrüßen Prozessionen aus anderen Gemeinden. Einheimische nehmen an den Prozessionen teil und werden immer häufiger von vielen Gästen begleitet. In jeder Prozession gibt es eine traditionelle Ordnung: Der Kreuzträger steht mit seiner Gruppe am Anfang und wird zuerst von Männern (jep!) und erst dann von Frauen (jep!) gefolgt. Es ist interessant zu sehen, wie die „Frauenfrage“ im Laufe der Jahre selbst in den starrsten und hartnäckigsten traditionellen Kontexten zum Ausdruck kam. In letzter Zeit wurde nämlich festgestellt, dass einige Frauen die etablierte Ordnung nicht respektieren wollen, sodass sie in der Prozession eine sogenannte traditionelle Verwirrung hervorrufen. Die Prozession selbst transformiert sich auf dem Weg: Menschen beten und singen in Gruppen und manche reden sogar miteinander, aber das Ziel ist es, die traditionelle Struktur der Prozession zu bewahren.
Es gibt wundervolle Momente in der Prozession, in denen meditative Musik die spirituelle Reise begleitet. Insbesondere, 4 bis 5 speziell ausgewählte Kantaduri (Sänger) singen Gospin plač (das Weinen der Mutter Gottes) vor dem Grab Jesu in jeder Kirche an jeder Station der Prozession. Dabei wiederholt sich eine Strophe immer wieder, mit der die Sänger die Teilnehmer einladen, genau darüber nachzudenken, wer an diesem Tag für uns am Kreuz gestorben ist: Nut mislimo ovdan danas, ki na križu umri za nas... Die Sprache des Weinens ist archaisch und die Melodie ist, obwohl im Allgemeinen ähnlich, von Ort zu Ort sehr unterschiedlich. Es gibt äußerst kathartische Momente in dieser Prozession, darüber könnte man Bücher schreiben, und dem Leser wäre immer noch nicht klar, worin das Geheimnis besteht? In solchen Momenten scheint es, als ob der Mensch mit Menschen und Gott im ewigen Dreieck der Sünde, des Leidens und der Erlösung verbunden ist.
Die Frauen verlassen die Kirche danach nicht in Eile, sondern sie bleiben ein wenig zurück, damit sie an das Grab Jesu näher herankommen können, um persönlich am Grab zu beten, aber auch um zu bewerten, wessen Grab schöner ist.
In den frühen Morgenstunden des Karfreitags versammeln sich Gläubige, die nicht an der Prozession teilgenommen haben (hauptsächlich Kinder und ältere Menschen), vor ihren Kirchen, um ihre Kreuzträger bei der Rückkehr zu erwarten. In Jelsa ist ein neuer, emotionaler und besonders interessanter Brauch entstanden: Nachdem er das Kreuz die ganze Nacht getragen hat, rennt der müde, aber beflügelte Kreuzträger die letzten hundert Meter zum Pfarrer, der auf ihn wartet. Der Kreuzträger kniet nieder und der Pfarrer küsst sowohl das Kreuz als auch den Kreuzträger. Gemeinsam gehen sie weiter zur Kirche, wo sie beten und singen und wo der Kreuzträger alle Anwesenden mit dem Kreuz segnet, das er demütig und geduldig, im wahren Sinne von Ora et Labora, an seinen Bestimmungsort gebracht hat, wozu ihm alle gegenwärtigen Gläubigen schließlich gratulieren.
Der Kreuzträger ist verpflichtet, seine Begleiter mit Frühstück zu versorgen und eine Woche nach der Prozession wird ein großes festliches Mittagessen vorbereitet. Das erinnert an eine Hochzeitsfeier und die Kreuzträger bekommen auch Geschenke. Sowohl Männer als auch Frauen nehmen am Mittagessen teil: Die Männer feiern und schlemmen freudig, während die Frauen freudig kochen und servieren.
Wie viel die Prozession Za Križen dem Volk bedeutet, zeigt sich dadurch, dass sie kontinuierlich und unter sehr schwierigen historischen Umständen stattgefunden hat. Während des Zweiten Weltkriegs haben italienische Besatzungsmächte einst ihr Stattfinden verboten, beziehungsweise unter der Bedingung genehmigt, dass nur Kreuzträger und einige Begleitpersonen in der Prozession teilnehmen durften! Das zweite Mal wurde sie von deutschen Besatzungstruppen vollkommen verboten, aber durch einen seltsamen Zufall fand die Prozession im Flüchtlingslager El-Shat in Ägypten statt. Die Flüchtlinge brachten stolz die Kruzifixe von dieser Prozession zurück auf die Insel und sie befinden sich immer noch in den Pfarrkirchen von Hvar.
Die Prozession Za Križen wurde 2009 in die Liste des immateriellen Kulturerbes der UNESCO aufgenommen.
Wir haben das Gefühl, dass es dazu nichts Weiteres zu sagen gibt. Wir können es kaum erwarten, Sie auf den Weg der Prozession zu bringen und Ihnen die Details vor Ort zu zeigen, die wir erwähnt, aber auch diejenigen, die wir nicht erwähnt haben.
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